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Ich Bremse auch mit Tieren

Als wir letztes Jahr zu Weihnachten bei den Eltern der Freundin zu Besuch waren und am späten Nachmittag des Heiligen Abends im Taxi vom Weihnachtskonzert gemeinsam zurück zur elterlichen Wohnung fuhren, sprach die Mutter plötzlich zum Taxifahrer mit betroffener fast tränenerstickter Stimme, er habe ja wohl leider keine Familie, sei vermutlich ganz allein, wenn er sogar am Heiligen Abend Taxi fahre.

Der Fahrer jedoch antwortete: Oh nö, bei mir ist das andersrum. Eben weil ich sehr viel Familie habe, fahre ich Weihnachten lieber Taxi.

Ich verstand ihn. Zumal dieser Beruf gerade an den Festtagen einen besonderen Reiz hat. Als ich vor langer Zeit selbst als Taxifahrer gearbeitet habe, gehörten die Weihnachtsschichten zu meinen liebsten, weil erlebnisreichsten. Unvergessen für mich ist beispielsweise das angestrengte Gespräch einer dreiköpfigen Familie, die ich am Morgen des ersten Feiertages zum Bahnhof brachte. Der Mann setzt sich, nachdem das viele Gepäck verstaut ist auf den Beifahrersitz nach vorne. Die Mutter und die ca. 8-jährige Tochter warten schon seit einer Weile auf der Rückbank auf die Abfahrt. Der Mann“ „Zum Bahnhof Zoo.“

Die Frau: „Ich kann nicht glauben, dass du die Pralinen für Tante Swantje nicht wiedergefunden hast.“

„Die kriegen wir vielleicht auch noch mal in Köln am Bahnhof.“

„Aber nicht mit dem Preisschild. Ich hab mir doch von Ingrid im Reichelt extra ein anderes Preisschild drauf machen lassen, damit Tante Swantje denkt, die wären dreimal so teuer gewesen.“

„Wenn wir die am Bahnhof noch mal kaufen, sind sie auch in etwa dreimal so teuer.“

„Darum geht’s doch gar nicht, du Blödmann! Tante Swantje soll nur denken, die wären dreimal so teuer gewesen! Wenn wir tatsächlich das Dreifache bezahlen, können wir der auch gleich Pralinen kaufen, die dreimal so teuer sind.“

„Wir können ja am Bahnhof fragen ob die uns nicht auch ein teureres Preisschild da drauf kleben. Machen die doch vielleicht, wenn wir denen noch etwas extra geben.“

„Ja. Am besten eben genau das was auf dem Preisschild drauf steht.“

Das Kind schreit.

„Was ist jetzt denn schon wieder?“

Das Kind: „Nichts.“

„Ich merke doch, dass da was ist.“ – „Nein ist nichts.“ – „Was hast du denn da?“ – „Nichts.“

„Julchen sag jetzt seiner Mutter, was du da hast!“ – „Ich habe nichts.“ – „Julchen, lügt nicht!“ – „Doch!“

Die Mutter schreit: „Was ist denn da jetzt?“ – „Nichts.“

„Jetzt sagt ihr sofort, was da ist.“ „Nee nee, da ist nichts.“

Es fiept. Mutter und Kind schreien. Der Vater atmet sehr tief und laut hörbar ein, wohl um sich zu beruhigen:
„Sagt jetzt bitte nicht, dass Julchen ihre Ratte mitgenommen hat.“

Schweigen …

„Ich hör‘ nichts.“

„Du hast doch gesagt, wir sollen lieber nicht sagen, dass ich Justus mitgenommen habe.“

Also ich glaub’s ja nicht, ihr seid ja wohl … uh … der Vater verstummt – alle sind plötzlich ganz still.

Stattdessen höre ich sie nur noch hektisch bemüht leises Rascheln und Zischen.

Mir kommt ein unerfreulicher Verdacht.

Obwohl ich mich vor der Antwort fürchte, frage ich: „Sagen Sie mir bitte nicht, dass Ihnen die Ratte ausgebüxt ist und jetzt hier frei durchs Taxi huscht.“

Die ganze Familie schweigt.

Als was für eine Antwort soll man das werten?

„Die tut eigentlich nichts. Der Justus ist meistens ne ganz liebe Ratte.“

Spüre in meinem Fußraum was huschen. Trete sofort heftig auf die Bremse. Die Bremse quietscht.
Laut, aber der Wagen wird nicht langsamer.

Ah, das Quietschen klang schon auch seltsam. Und die Bremse war ungewöhnlich weich.

Das Kind brüllt: „Der Mann hat Justus totgebremst!“

Denke: „Dabei bekommt der Satz Ich bremse auch für Tiere noch mal eine ganz andere Bedeutung.“

Wobei – genau genommen muss es hier wohl heißen: Ich Bremse auch mit Tieren.

„Keine Angst, dem Justus geht’s gut, der hat sich nur erschrocken. Sitzt jetzt bei mir.“

Ich sage: „Das war gerade übrigens ganz schön knapp. Ich hätte fast einen Unfall gebaut.“

Der Vater schaut betroffen. „Schade.“

„Was?“

„Na ich will mal so sagen: wenn Sie jetzt einen Unfall bauen würden und wir deshalb unseren Zug verpassen und nicht zu der buckligen Verwandtschaft meiner Frau können, kriegen Sie von mir 100 Euro.“

„Echt?“

Die Frau ruft von hinten: „Und die Pralinen noch dazu. Also wenn Sie uns dann wieder nach Hause gefahren haben.“

Überlege laut: „Naja ein wirklicher Unfall wäre schon blöd. Aber wir können natürlich so tun, als ob …
Ich habe einen Kollegen, der hatte vor ein paar Monaten tatsächlich ein Blechschaden. Der würde uns bestimmt die Unfallfotos leihen. Das könnte man dann der Verwandtschaft schicken – quasi als Beweis.“

Am Ende hatten alle ein schönes Weihnachtsfest.

Die Familie blieb in Berlin. Justus kam zurück in sein Häuschen im Käfig und ich hatte 100 Euro und Pralinen.

Das nächste Weihnachten rief mich der Vater wieder an.

Ob er sich die Unfallfotos noch mal leihen dürfte?

Bei ihnen selbst würde das natürlich auffallen, aber gute Freunde, denen sie im Vertrauen davon erzählt haben, hätten großes Interesse.

Im Laufe der Jahre haben diese Fotos mir und dem Kollegen ein hübsches, kleines, zusätzliches Weihnachtsgeld und Pralinen beschert.

Als wir in der Wohnung der Eltern ankommen, blinkt schon der Anrufbeantworter: der Münsteraner Teil der Familie hat leider den Zug verpasst. Das Taxi hatte auf dem Weg zum Bahnhof einen Unfall. Sie haben uns auch schon die Fotos vom Unfalltaxi per Mail geschickt.

Als ich die Bilder sehe, denke ich: „Ach guck, der Kollege.“

Ist wohl nach wie vor im Blechschadenfotoverleihgeschäft. Hat sogar eine Möglichkeit gefunden, das Berliner Nummernschild mit Photoshop zu bearbeiten, sprich durch ein Münsteraner Kennzeichen zu ersetzen. Er arbeitet jetzt überregional.

Nicht schlecht. Man staunt doch immer wieder, wie viele ganz unterschiedliche Arbeitsplätze hierzulande mehr oder weniger am Automobil hängen.

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